Netzneutralität: EU-Parlament erteilt Freifahrtschein für Zwei-Klassen-Netz
Es ist soweit: Das EU-Parlament hat den Trilog-Kompromiss zur Netzneutralität gebilligt. Online knallt es in allen Communities, auch außerhalb der IT-Industrie, bereits gewaltig. Denn die gemeinsamen Regeln der EU weisen zahlreiche Kritikpunkte auf. So handelt es sich eigentlich sowieso keineswegs um verbindliche, gemeinsame Regularien – denn die Lücken und Schlupflöcher klaffen derart gewaltig, dass die Regulierungsbehörden der 28 Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte und die EU-Behörde für Regulierungsfragen im Telekommunikationssektor (BEREC) nun aktiv werden müssen.
Eine große Mehrheit stimmte für die Verordnung – kein einziger der Änderungsanträge kam dagegen durch. Die Politiker betonen nun wie beste Marketer, dass im Zuge der Neuregelung die Roaming-Gebühren im EU-Ausland senken. Dabei geht allerdings unter, dass die Netzneutralität eingeschränkt wird. Netzpolitik kritisiert etwa scharf, dass Telekommunikationsanbieter nun ausgewählte Angebote als Spezialdienste vermarkten und mit schnelleren Anbindungen versehen dürfen. Auch Services, die von monatlichen Datenvolumen ausgenommen sind, bleiben erlaubt – dadurch können Konzerne wie die Deutsche Telekom etwa eigene Dienste wie Entertain von Einschränkungen bewusst ausklammern und sich einen Vorteil verschaffen.
Auch dürfen Netzbetreiber verschiedene Verkehrskategorien für Datenpakete einteilen. Im Klartext könnte das in der Praxis erlauben z. B. P2P-Protokolle entweder stark einzuschränken oder komplett unbenutzbar zu machen. Ähnlich könnte man sogar mit verschlüsselten Daten verfahren. Wer nun ein paar Schritte weiter denkt, macht sich eventuell bereits Sorgen. Auch können Telekommunikationsanbieter bereits bei der Befüchtung einer „drohenden Netzüberlastung“ mit dem drosseln beginnen.
Speziell der Abgeordnete Michel Reimon von den Grünen zeigt sich enttäuscht und spricht davon, das EU-Parlament habe die Netzneutralität begraben. Reimon erklärt mit harten Worten: „Das Ergebnis ist ein Zwei-Klassen-Internet, in dem derjenige bevorzugt wird, der mehr bezahlen kann. Die angebliche Abschaffung von Roaming-Gebühren ist eine Farce. Die Gebühren wären sowieso Ende 2018 ausgelaufen.“
Ähnlich hat Jan Philipp Albrecht reagiert, ebenfalls ein Abgeordneter der Grünen:
[color-box color=“gray“ rounded=“1″]“EU-Kommissar Günther Oettinger feiert das Ergebnis als Erfolg für die Netzneutralität, dabei wird die Wahrheit dieses dreckigen Deals immer deutlicher: Die heutige Entscheidung ist de facto eine massive Einschränkung des Neutralitätsgebotes. […] Dieses Zwei-Klassen-Netz wird große Anbieter aus dem Silicon Valley wie Google, Apple und Netflix gegenüber kleineren Konkurrenten stärken, die vor allem in der EU ansässig und auf einen leichten Marktzugang angewiesen sind. Der gefundene Deal ist daher ein Geschenk für die großen Internet- und Telekommunikationsunternehmen auf Kosten kleinerer Wettbewerber sowie der Verbraucherinnen und Verbraucher. Letztere müssen nun befürchten, dass große Werbeanzeigen in HD-Qualität auf den Bildschirmen ihrer PCs und Smartphones landen, während der eigentlich gewünschte Inhalt oder Dienst langsam hinterhertröpfelt. Heute ist ein schwarzer Tag für die Digitalpolitik in Europa.“[/color-box]Wer zu diesem Thema ein Fragezeichen im Gesicht hat: Die Netzneutralität meint, dass alle Dienste gleich behandelt werden: Also z. B., dass Netflix nicht eine bessere Anbindung zur Verfügung gestellt bekommt als ein vergleichsweise kleiner Konkurrent aus Deutschland. Auch ist damit gemeint, dass Telekommunikationsanbieter nicht auf die Idee kommen sollten eine verschlüsselte E-Mail langsamer zu übertragen als eine unverschlüsselte. Genau hier öffnet der Trilog-Kompromiss leider die Büchse der Pandora. Bleibt zu hoffen, dass die Gerichte und anderen EU- und nationalen Institutionen nun die vagen Passagen mit Inhalt füllen, so dass sich das Gleichgewicht vielleicht wieder zugunsten der Nutzer verschiebt.
Die Debatte war vorhersehbar und ist berechtigt. Leider wird sie allerdings ziemlich opportunistisch geführt: Wenn man den Anbietern strikte Neutralität auferlegt (was auch ich im Grundsatz befürworte), muss man im Gegenzug bereit sein, die Kosten hierfür auch angemessen zuzuordnen.
Eine angemessene Kostenzuordnung würde wiederum bedeuten, dass diejenigen Nutzer, die Netze intensiver belasten als andere, stärker zur Kasse gebeten werden. Eine solche Zuordnung ist in den meisten Netzinfastrukturen absolut üblich, so werden etwa die Energienetzentgelte dem Abnehmer nach Transportleistung berechnet.
Gegen derartige Erwägungen regt sich allerdings mindestens im gleichen Maße Widerstand. Der letzte Versuch hierzu brachte einem großen deutschen Anbieter den Spitznamen „Drosselkom“ ein.
Leider muss man einen Tod sterben: Entweder man lässt die Kosten von den Dienstanbietern mitfinanzieren (adé Netzneutralität) oder eben nicht. Dann muss man aber auch bereit sein, diese zu zahlen.
@Joe: Danke für den umsichtigen Kommentar.
Grundsätzlich haben meiner Meinung nach auch jetzt schon die „Großen“ Vorteile, weil sie eben die Netze „kostenlos“ Nutzen dürfen und nur ihre Server auf Trab halten müssen. Wer viel durchpumpt muss halt eigentlich auch viel zahlen – egal ob als Kunde oder Anbieter.
Anders betrachtet finde ich es an sich auch ein Unding, wenn ich bei einem Anbieter eine Flat kaufe und diese dann „wegen Überlastung“ nicht voll bedient werden kann. Aber wenn die Anbieter dann Volumina einführen, schreit auch jeder wieder auf. Und das nicht unbedingt zu Unrecht, weil die angebotenen Volumina wieder selten dämlich sind.
In der Hinsicht wäre es eben schön, wenn man ein Spotify-Abo kauft, dass dann das Spotify-Volumen beidseitig damit abgerechnet werden kann, weil es überdurchscnittlich viel ist.
Mir würden vielmehr garantierte Mindesqualitäten helfen, irgendwelche SLAs: „Jeder Dienst muss mit einer gewissen Geschwindigkeit bedient werden“ oder so. Und damit meine ich nicht die Drossel-Geschwingdigkeit bei Mobilverträgen.
Oder man geht das Problem ganz anders an und sieht das Netz als öffentliche Infrastruktur wie Straßen o.ä. und finanziert das ganz anders. Aber auch da müsste man sich Gedanken machen, wie viel Bandbreite/Traffic eine Einzelperson bekommt, aber auch ob ein Unternehmen da vielleicht einfach mehr braucht?