Musik: Alt ist mächtiger als Neu
Wer sich intensiv mit Musik beschäftigt, hört in der Regel nicht nur aktuell aktive Künstler, sondern blickt auch in der Zeit zurück – egal ob selbst Jugendlicher oder „alter Knacker“. Das kenne ich von mir selbst: Als ich etwa als Teenager meine Begeisterung für Black Metal entdeckte, ging ich auch den musikalischen Ursprüngen der Szene auf den Grund. Doch laut The Atlantic hat sich da mittlerweile ein Problem ergeben: Alte Musik sei beliebter und erfolgreicher als neue Musik.
Man bezieht sich auf den US-Markt, viele Aussagen dürften aber auch hierzulande gelten. Demnach würden „alte“ Song aktuell für 70 % des US-Musikmarktes stehen. Der Markt für neue Musik schrumpfe. So ergebe sich das Wachstum der Musikbranche vor allem aus altbekannten Songs bzw. den Katalogen eingesessener Künstler. So würden die Kunden mehr Alben und Songs älteren Datums kaufen als neue Hits. Ein weiteres Beispiel: Die 200 beliebtesten neuen Tracks stehen in der Regel nur für 5 % der Musikstreams. Das Verhältnis war vor ca. drei Jahren noch deutlich anders.
Es zeichnet sich ab, dass auch jüngere Musikhörer immer häufiger Klassikern der Vergangenheit lauschen, während moderne Musik in der Popkultur an Einfluss verliert. Selbst Charthits werden also teilweise von vielen Menschen gar nicht mehr wahrgenommen. Dies dürfte wohl auch dem Einfluss des Streamings geschuldet sein: Im Radio entkommt man manchen aktuellen Tracks schlichtweg nicht. Beim Streaming sieht das anders aus, weil man sich selbst entscheidet, welche Playlists, Künstler, Alben oder Songs gezielt laufen sollen.
Die abnehmende Bedeutung aktueller Musik sei auch anhand der Grammys zu beobachten: Ehemals ein wichtiges Ereignis der Musikindustrie, interessiert die Preisverleihung einen schwindenden Kreis. Nun werfen einige Leser vielleicht ein, diese Entwicklung hin zu „Alt statt Neu“ sei der Pandemie geschuldet. Schließlich könnten Jugendliche nicht in Clubs gehen, Konzerte besuchen und sich auf Partys mit den neuesten Songs gegenseitig beschallen. Doch die aktuelle Entwicklung begann bereits vor der Pandemie. Etwa gilt die Vinyl-LP inzwischen für Enthusiasten als physisches Medium der Wahl – neuere Medien von höherer technischer Qualität, etwa Blu-ray Audio, spielen kaum eine Rolle.
Investment-Unternehmen wiederum veranstalten ein Wettbieten um Songkataloge aus den vergangenen Dekaden – David Bowie, Bob Dylan oder Bruce Springsteen sind es, die gefragt sind und nicht der neueste Jungspund. Ich selbst bin aber wohl eine Ausnahme: Ich höre bei Spotify täglich frische, junge Künstler an, kontaktiere sie auch manchmal über soziale Netzwerke, wenn mir ihre Songs besonders gefallen. Da ich früher selbst Musik gemacht habe, kommt man manchmal locker ins Gespräch. Es sind also viele neue Talente vorhanden: Aber es ist sicherlich schwerer denn je, nicht in der Masse unterzugehen.
Dazu kommt eventuell, dass Plattenfirmen in Verbindung mit neuen Künstlern sozusagen eher nach kurzfristigem Hype streben. Der langfristige Aufbau einer Band oder eines Solo-Künstlers sind schwieriger. Da veröffentlicht man dann eben vielleicht lieber ein David-Bowie-Remaster und ist sich der Einnahmen sicher. Aber selbst die Algorithmen von Spotify, Deezer, Tidal und Co. sind träge: Sie schlagen Songs und Künstler vor, die dem ähneln, was man ohnehin bereits hört. Da wird es schwerer, überhaupt einen innovativen Künstler zu geraten, der aus der Masse heraussticht. Denn die Algorithmen fördern Konformität und nicht Revolution.
Es wird also spannend, ob es nochmal musikalische, neue Bewegungen wie Punk geben wird, die ja nicht nur für Musik standen, sondern auch für bestimme Ideologien. Vermutlich werden sie sich dann eher selbstständig über soziale Netzwerke durchsetzen, anfangs ohne Unterstützung der Industrie.
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Es existieren seriöse vergleichende Analysen zu zeitgenössischer Popmusik, die dieser bescheinigen, an Vielschichtigkeit und Abwechslungsreichtum stark eingebüßt zu haben; und in der Tat, lauscht man dem, was von ÖRR- und Privatradiosendern an Aktuellem gespielt wird, erscheint sogar „Modern Talking“ musikalisch komplex den Zuhörer fordernd. Dazu kommt der seltsam bekümmerte, ja traurige Unterton. Dagegen ist Achtziger Pop geradezu fröhlich und auf freche Weise unanständig lebensbejahend. Letzteres hat nach Marketing-Experten angeblich eine den individuellen Konsum stimulierende Wirkung. Somit wäre auch die unerklärliche Melancholie erklärt, die sich durch die Radionächte zieht, nachdem dieses Land doch in allem Weltmeister ist, vor allem bei den ’social skills‘.
Wie auch immer scheinen junge Leute, die Adressaten der aktuellen Popmusik sind, immer weniger Gefallen an ihr zu finden, zumal wegen der Pandemie wichtige Verbreitungswege für die neuesten Meisterwerke deutschen naturtrüben und als Pop getarnten Schlagers ala Giesinger, Glasperlenspiel (was für ein besch* Name), Matz Muxke und Konsorten fehlen: Massen-Events.
Als Ü50 (Klassik, Black-, Death-, Drone-Metal, Punk, No Wave, Industrial) bin ich aber baff, was manchmal Neues an mein Ohr dringt. Z.B. Billie Eilish. Und auch im von den Mainstream-Medien, die höchstens bei Rap feuchte Höschen bekommen, weil zu bemutternde Minderheiten~, gemiedenen Metal ist unheimlich viel Kreativität drin. Unterm Strich höre ich neue neue Musiker in alten Genres Neues anstellen und kann jeden Jungen Menschen verstehen, der sich über der aktuellen Kindergartenmucke erbrechen muss.
Dass die aktuelle Pop-Musik recht eintönig daherkommt, liegt vielleicht auch an der übersichtlichen Anzahl von professionellen Akteuren in der Musikproduktion. Und dass es für die „üblichen Hits“ nur wenige Produzenten gibt. Durch diese kannst Du jeden Song so hinbügeln, dass alles nur noch klingt wie ein langer Mix aus den immer ähnlichen Liedern.
Und ja, früher war der Grundton in der Gesellschaft deutlich positiver. Es war die Zeit des technologischen Aufbruchs und der ermöglichte allerlei Fantasien über spannende Entwicklungen in der nahen Zukunft.
Heute ist nicht zuletzt dank Kommerzialisierung, verfehlter Sozialpolitik und Social Media alles bestimmt durch Angst und Egozentrismus. Angst vor Inflation, vor fehlender Rente, dem Russen, dem Jobverlust, dass „Die Grünen“ einem die Currywurst verbieten, Klimawandel, steigenden Energiepreisen, Echsenmenschen, sich verschwörenden Eliten und natürlich Corona. Damals träumten wir davon, dass die Computer irgendwann einmal fotorealistische Bilder anzeigen können, dass wir 2010 eine Kolonie auf dem Mars haben und uns in wenigen Jahren von A nach B beamen können. Heute bin ich immer wieder erstaunt, wie viele junge Leute der Meinung sind, dass alles bereits erfunden worden ist. Und dass heiraten, Haus bauen, Kind kriegen, Baum pflanzen der einzige Weg zur Glückseligkeit ist.
Und das Argument, dass die heutige Jugend ihrer selbigen beraubt wird, weil sie mal länger nicht Party machen können, hängt mir echt zum Hals raus. Wie oft sind wir früher auf „Massen-Events“ gewesen? Das kann ich an einer Hand abzählen. Heute ist es völlig normal, dass man kurz mal zu Coachella fliegt. In den 1960 bis 1990ern war das für fast alle Jugendlichen unerreichbar. Und dennoch haben wir Musik gehört. Im Radio. Mit dem Finger auf dem Aufnahmeknopf. Und später das Mixtape im Walkman, bis das Ding das Band gefressen hat.
Dennoch, auch heute gibt es meiner Meinung nach gute, innovative Musik. Und sie hat heute wie damals das gleiche Problem, nämlich dass Kommerzialisierung viel kaputt machen kann. Das war mit Billie Eilish so und das sehe ich aktuell auch wieder mit FKA Twigs neuem Album.
Ich bin ein 78er. Höre seit den späten 80er Jahren elektronische Musik und bin heute eher härter (Hardstyle/Hardcore) unterwegs als damals. Wahrscheinlich hatte ich das Problem der „alten“ Musik nie so wahrgenommen, da ja viele Samples davon in „meiner“ Musik eingebaut sind. Ich habe nichts dagegen, höre im Auto per DAB eigentlich ausschließlich sunshine live – aber meistens eher Mixe vom Smartphone per Android Auto. Normales Radio ertrage ich ungern weil da meistens Kommerzkäse gespielt wird.
Mother North ! …sorry, musste mal sein 🙂
Das Problem ist doch eher, dass es heute fast nichts mehr gibt, das das Kriterium „Musik“ erfüllt.
Nur noch talentfreies Gesample und Gelabere, keine Melodien mehr, keine Harmonien, kein Rhythmus (außer stumpfes Utz-Utz-Utz), warum sollte man sich sowas freiwillig antun, wenn richtige Musik nur einen Klick entfernt ist.
Nur so ein Gedanke – Für mich ist das einer der besten Threads, die es im Blog bisher gab.
Ich bin im Wochenrückblick nochmal über diesen Blogeintrag gestolpert, das hat mich veranlasst noch ein bisschen im Internet nacch dem Thema zu stöbern. ein lesenswerter Artikel von David Lee findet sich bei Galaxus.
https://www.galaxus.de/de/page/einheitsbrei-in-der-mainstream-musik-teil-4-die-gruende-14400
Der Link zeigt auf Teil vier, die ersten drei sind unter dem Artikel zu finden. Ziemlich vielschichtig und interessant das Ganze.